„Die souveränen Nationen der Vergangenheit sind nicht mehr der Rahmen, in dem sich die Probleme der Gegenwart lösen lassen. Und die (europäische) Gemeinschaft selbst ist nur eine Etappe auf dem Weg zu Organisationsformen der Welt von morgen.“
Jean Monnet, 1. europäischer Ehrenbürger, Erinnerungen eines Europäers, Hanser Verlag, 1978, Seite 662.
Hallo Europa, gerne zeige ich Ihnen den Weg. Nehmen Sie die zweite links, dann die Straße runter und bei der Straßenbahn rechts rein, und dann nochmal rechts und immer geradeaus. Biegen Sie am Ende links ab, stehen Sie zwei Straßen später wieder rechts von mir. Und passen Sie bloß auf, dass sie nicht zu einer von denen da oben werden, wenn Sie später in den zweiten Stock gehen.
Ein netter Mann, denkt Europa bei sich, während sie auf ihrem Marsch den Blick nach links und rechts schweifen lässt, entlang der Ukraine, dem Kosovo, Jugoslawien. Wie Schatten ziehen sie vorbei, verhungernde und verdurstende Menschen, gequält und mit Fußtritten traktiert, oder bereits unter dem Antlitz ihres Henkers dahinsiechend. Wahrlich, der Weg ändert die Wahrnehmung, denkt Europa, und biegt links ab.
Manchmal vergisst Europa die Banalität des Bösen, von Menschen, für Menschen, mit Menschen, durch Menschen, und sieht vor lauter Menschen den Mensch nicht mehr. Doch wenn am Ende der Mensch mehr als die Summe der Menschen ist, dann sind die Menschen auch eigentlich gar nicht so wichtig. Gedankenverloren blickt sie sich um, und sieht etwas, das sie noch nicht kennt.
Hinter ihr steht ein kleiner Mann. Er hält etwas in der Hand, während sich hinter ihm immer mehr Menschen versammeln. Angestrengt kneift sie die Augen zusammen, kann jedoch nicht erkennen, was der Mann da in der Hand hält. Erst als der Mann anfängt, langsam seine Hand vor und zurückzubewegen, wendet sie beschämt den Blick ab und setzt ihren Weg fort. Im anschwellenden Stöhnen und Tönen hört sie ihn machtberauscht ächzen. Die freiheitlichen Demokratien sind pervers. Sie sieht die Tram und biegt rechts ab.
Irgendwie tut er ihr leid, der kleine Mann mit dem kleinen Ding, so wie er sich an dem festhält, was er hat. Sie versteht nicht, warum der kleine Mann lieber sein Ding ergreift als die Herzen seiner Mitmenschen. Sie nimmt sich vor, das nächste Mal den Menschen, die hinter dem kleinen Mann stehen, zu sagen, was er da so ergriffen in der Hand hält. Europa blickt auf. Sie geht durch eine Gasse. Die schrillen Wände und noch schrilleren Worte schreien sie an. Einstiegsdroge Frühlingsrolle. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Neben einem Galgen prangt das Wort bayerischer Dampfschifffahrtskapitän, dahinter fragt jemand: Sind Sie Bayern oder Deutschland?
Ich bin Europa, denkt sie sich. Was ist das überhaupt für eine blöde Frage, als ob es nicht möglich ist, Bayern, Deutschland und Europa zu sein. Die nette Dame von nebenan, Baujahr 1952, hatte ihr immer gesagt, sie könne sein, was sie sein wolle. Also beschließt Sie, heute Italien, Polen und Europa zu sein, und morgen Belgien, Portugal und Europa. Und übermorgen möchte Sie gerne die Ukraine sein. Und Europa.
Erneut blickt Europa sich um. Sie war an einer Kreuzung angelangt. Der nette Mann hatte gesagt, Sie müsse nun nach rechts abbiegen. Doch rechts sieht Europa nur einen großen orangen Mann, der wild gestikulierend mit der Wand spricht. Er ist ihr unheimlich. Von links hört Europa ein Geräusch. Eine riesige Gestalt im Winnie-Poo-Kostüm kommt auf sie zu und zeigt mit einem Honigtopf auf seine Gasse. Europa schüttelt den Kopf und geht geradeaus weiter.
Wo gehen Sie hin, hört Sie den netten Mann in ihrem Kopf sagen, sie müssen nach rechts, und dann nach oben.
Nein, muss ich nicht, murmelt Europa, und geht einfach weiter.
Ein Text von Roman Mönig und Heinz Droste